Projekt

Mit dem Projekt „Natur der Dinge“ des Museums für Naturkunde Berlin und des Muséum national d’Histoire naturelle Paris laden wir dazu ein, mit eigenen Objekten und persönlichen Geschichten zu einer digitalen Sammlung zu Umweltveränderungen beizutragen. 

Bei „Natur der Dinge“ geht es uns darum, persönliches, lokales und kulturelles Wissen über den menschlichen Einfluss auf Natur[1] in den Kontext naturkundlicher Sammlungen einzubeziehen. Wir rücken daher die individuellen Perspektiven auf menschengemachte Umweltveränderungen in den Fokus: Welche Dinge aus der Vergangenheit erzählen Geschichten über den Wandel? Welche Fundstücke und Erinnerungen sind aus heutiger Sicht überraschend? Was haben wir schon längst vergessen – oder nie bemerkt? 

Wir gehen davon aus, dass es die bisher unerzählten Geschichten über die aktuellen Umweltveränderungen braucht, um auf die Herausforderungen im Anthropozän[2] reagieren zu können. Wir alle haben die Bilder vom brennenden Regenwald oder Exponentialkurven zum Anstieg des weltweiten CO2-Ausstoßes schon einmal gesehen. Aber reichen diese Bilder aus, wenn es darum geht, die Rolle menschlicher Aktivitäten[3] in Bezug auf den Wandel im Einzelnen zu verstehen?

Mit der Sammlung wollen wir dazu beitragen, über den individuellen und persönlichen Zugang zu den globalen Veränderungen, wie dem Klimawandel und dem Verlust von Biodiversität neue gesellschaftliche Handlungsräume zu öffnen. Sie zielt daher auf die Verknüpfung von individuellen, lokalen Erfahrungen und kollektiver Wahrnehmung, von Erinnerungen und einer Reflexion für die globale Zukunft. 

 

[1] Nur noch etwa 3 Prozent der Landfläche auf der Erde gelten als ökologisch unberührte Natur. Können wir heute also noch von einer Natur jenseits des Menschen sprechen? Sind Natur und Kultur eins geworden? 

[2] „Menschenzeitalter“, die Idee, dass sich heute der Einfluss menschlicher Aktivitäten überall auf der Erde nachweisen lässt: Z.B. anhand von Atommüllabsonderungen der nuklearen Tests seit 1945, oder von Mikroplastik in den Sedimenten. 
→ Siehe „Was ist das Anthropozän”

[3] Vor allem das Handeln eines Teils der Bevölkerung wohlhabender Staaten und Industrienationen.
→ Siehe „Was ist das Anthropozän” 

 

Unsere Forschungsfragen 

 

Unsere Arbeit ist von drei zentralen Forschungsfragen geleitet: 

  1. Wie formen kollektive und individuelle Erinnerungen unsere heutigen Umweltbeziehungen? 
  2. Was erzählen uns die persönlichen und lokalen Zeugnisse sich verändernder Natur – Alltagsgegenstände, Erinnerungsstücke, Dinge und Dokumente aus der Vergangenheit – über aktuelle globale Transformationen? 
  3. Und wie können wir das Wissen verschiedener Akteure und Gemeinschaften in naturkundliche Sammlungspraktiken integrieren?

 

Ein Sammlungsexperiment

 

Mit unserer Plattform ermöglichen wir eine digitale partizipative Sammlung, in der statt der Wissenschaftler:innen die Teilnehmenden selbst entscheiden, welche Objekte Teil der Sammlung sein können und wie sie beschrieben und verknüpft werden können. Die Plattform ist dreisprachig (Deutsch, Französisch, Englisch) angelegt und erlaubt durch automatisierte Übersetzung einen direkten Austausch zwischen verschiedenen sprachlichen und kulturellen Kontexten. Basierend auf einem Citizen Science-Ansatz wagen wir ein offenes und neuartiges Sammlungsexperiment, um eine neue Form von Wissenschaft zu erproben, die unterschiedliche Perspektiven und Erzählungen zu Wort kommen lässt: Eine Wissenschaft, die davon ausgeht, dass Wissen im Anthropozän nur gemeinsam und im Austausch von Gesellschaft und Forschung entstehen kann. 

 

Was ist das Anthropozän?

 

Das Anthropozän, das „Zeitalter des Menschen“ bezeichnet ein neues geologisches Erdzeitalter, in dem der ganze Planet – von den Stoffkreisläufen bis in die Sedimente – von menschlichen Einflüssen geprägt ist. Es äußert sich im globalen Biodiversitätsverlust, im Klimawandel oder der Knappheit natürlicher Ressourcen wie Wasser oder Sand. Das neue Zeitalter ist dadurch bestimmt, dass menschliches Handeln zu einem entscheidenden Faktor im empfindlichen System der Erde geworden ist und dass es folglich auch am Menschen ist, den Einfluss zu regulieren, will er weiterhin eine lebenswerte Zukunft auf der Erde haben. 

Die Rede vom Anthropozän unterstellt allerdings, dass die „eine Menschheit“ sowohl verantwortlich für die Umweltveränderungen, als auch in der Lage ist, aktiv etwas dagegen zu unternehmen. Aber welche Menschheit ist hier eigentlich gemeint? Wer ist verantwortlich und wer in der Position, zu handeln? 

Die Entstehung des Anthropozäns ist eng mit der wirtschaftlichen und politischen Macht einer geringen Zahl an Industrienationen, besonders in Europa verbunden. Viele andere Bereiche auf der Erde sind vom durch den (Früh)Kapitalismus produzierten Wohlstand ausgeschlossen gewesen und noch immer ausgeschlossen, obwohl sie, wie z.B. Gebiete auf dem afrikanischen oder den amerikanischen Kontinenten, die wichtigste Basis für diesen Reichtum lieferten: Nicht nur Rohstoffe, sondern auch Menschen wurden in diesem Zuge systematisch zu ausbeutbaren Ressourcen erklärt und als solche behandelt. Nach wie vor sind der Zugang und die Verteilung von Ressourcen ebenso wie politische Handlungsmacht nicht gerecht verteilt und oft sind die globalen Konsequenzen des Anthropozäns gerade in den in dieser Hinsicht benachteiligten Regionen am stärksten spürbar. 

Wir gehen davon aus, dass das Anthropozän nicht als einheitliche Erzählung verstanden werden kann, sondern dass es anders aussieht, sich anders anfühlt und eine andere Geschichte hat, je nach dem, von wem und wo aus es betrachtet wird. Es sind diese vielfältigen Perspektiven, denen sich die Sammlung widmen möchte. 

 

Warum (noch mehr) Sammeln im Anthropozän? 

 

Dinge speichern Wissen. In ihnen lassen sich beispielsweise Spuren verlorener Artenvielfalt, vergessener handwerklicher oder landwirtschaftlicher Praktiken entdecken. Und sie können zu Ideen für neue Formen des Zusammenlebens mit anderen Spezies oder des Umgangs mit natürlichen Ressourcen inspirieren. Wir alle umgeben uns mit persönlichen Gegenständen oder erklären uns die Welt über den Umgang mit Dokumenten und Zeugnissen der Vergangenheit. Die Geschichte hinter diesen Gegenständen zu erzählen, kann uns helfen, besser zu verstehen, wie sich unsere Umwelt durch menschliche Interventionen verändert. Sammeln und (Neu-)Ordnen von Objekten ermöglicht es uns, die Verflechtung individueller und kollektiver Naturerfahrungen, des Lokalen und des Globalen wahrzunehmen. 

Wenn wir hier einen Zugang zum Anthropozän über das Sammeln vorschlagen, wollen wir gleichzeitig das Sammeln als Wissenspraktik selbst reflektieren: Wer sammelt? Und wessen Objekte sind es wert, für die Zukunft aufbewahrt zu werden? Wer stellt Verbindungen zwischen den Sammlungsobjekten her und für wen sind Sammlungen zugänglich? Mit unserem Experiment möchten wir das Sammeln im Kontext naturkundlicher Sammlungen als partizipatives, digitales und multiperspektivisches Verfahren erproben.

 

Partizipative und offene Wissenschaft 

 

Das Anthropozän stellt das Wissens- und Wissenschaftssystem vor neue Herausforderungen: Um die komplexen Veränderungsprozesse, Abhängigkeiten und Verstrickungen zu verstehen, deren Auswirkungen wir als Schwund der Biodiversität oder in zunehmenden Extremwetterlagen beobachten, braucht es eine Neuorganisation der wissenschaftlichen Praxis: Neue Verbindungen zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen, vor allem aber vertiefter gegenseitiger Austausch zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, um wissenschaftliches und gesellschaftliches Wissen und Handeln stärker zu verbinden. 

Unser Projekt sieht sich als Teil dieses Prozesses. Wir verstehen Partizipation nicht nur als eine Methode zur Information von Nicht-Wissenschaftler:innen über die wissenschaftliche Praxis, sondern als essentiellen Bestandteil des wissenschaftlichen Prozesses. Wir denken, dass das kulturelle Wissen über den Einfluss des Menschen auf unsere Umwelt, kollektive und individuelle Erinnerungen und vielfältige Erzählungen über die Veränderungen unserer Umwelt stärker berücksichtigt werden sollten, um das gesellschaftliche Potenzial dieses Wissens für die Zukunft zu aktivieren und zu nutzen.

Alle Beiträge unserer experimentellen Sammlung sind im Sinne des Open Science-Ansatzes offen zugänglich. Die Plattform selbst ist in engem Austausch mit Citizen Scientists entstanden und wird kontinuierlich auf Basis der Beiträge und des Feedbacks der Beitragenden weiterentwickelt. Gleichzeitig werden wir in den zukünftigen Versionen der Plattform und durch Aktivierungsformate mit lokalen Partnern auf weitere Öffnung für möglichst viele Perspektiven abzielen. Wir reflektieren zudem kontinuierlich die Position des Projekts an beiden europäischen Naturkundemuseen.